Landesverband praktizierender Tierärztinnen und Tierärzte Niedersachsen und Bremen e.V.

Den Patientenzuwachs an Kleintieren und Pferden in der Coronazeit haben wir vermutlich alle mitbekommen. Solange unser Wohlstand so hoch ist, wird sich das vermutlich nicht ändern.

Doch was wird mit unserer vielmals kritisierten Nutztierhaltung passieren? Keiner von uns kann Hellsehen, aber ein paar Tendenzen deuten sich uns bereits an.

Es steht fest, dass der Tierschutz und die Haltungsbedingungen eine immer größere Rolle spielen werden. Das ist sicher ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess.

Ich denke, dass wir Tierärzte in unseren Betrieben dabei eine entscheidende Rolle einnehmen, und damit auch mitverantwortlich sein werden. Auf den Schlachthöfen werden digitalisierte Befunderfassungen zum Standard werden („Qualifood“, „VetScore“ o.a.). Diese Rückinformationen sollten wir für unsere Beratungen nutzen. Darüber hinaus werden aber auch Befunde erhoben, die tierschutzrechtliche Relevanz haben, nicht nur auf allen Schlachthöfen, sondern auch auf allen Tierkörperbeseitigungsanlagen. Im Falle der Rückverfolgung werden wir Tierärzte Stellung beziehen müssen. Gleichzeitig müssen wir lernen den Mut aufzubringen, auch als Dienstleister, unseren Auftraggebern unmissverständlich klarzumachen, wenn die Haltungsmängel nicht den gesetzlichen oder tierbedürftigen Grundbedingungen entsprechen. Jeder Nutztierhalter wird einen festen Betreuungstierarzt mit mindestens jährlichen Besuchsintervallen nachweisen müssen. Dabei wird auch wieder die Zertifizierung der Tierarztpraxen zum Thema werden. Aktuell sind wir die einzige Stelle in der Lebensmittelkette, die keiner Qualitätskontrolle unterworfen ist. Wir werden vermutlich auch bei Euthanasien immer nachvollziehbare und gesetzeskonforme Gründe dokumentieren müssen. Wir merken heute schon, dass die Euthanasie eines Einzeltieres ein Notfall darstellt, der unverzüglich vorzunehmen ist. Dafür müssen Tierhalter auch im Notdienst die Kosten bereitstellen, auch wenn es regelmäßig den materiellen Wert des Tieres übersteigt.

Vermutlich könnte nicht nur die prozentuale Gesamtzahl der verendeten/getöteten Tiere, sondern auch das Verhältnis aus verendeten zu euthanasierten/getöteten Tieren im Bestand ein tierschutzrelevanter Faktor werden, wie es bei Biokontrollen bereits erkennbar ist.

Ich glaube, dass es eine zentrale Tierdatenbank geben wird (vermutlich HIT), wo alle Behandlungen und Erkrankungen (und damit nachvollziehbar auch alle Tierarztkontakte in jedem Krankheitsfall oder Abgangsfall) dokumentiert werden. Wenn wir damit auch für alle Krankheiten Referenzkennzahlen erheben, dann wird die Prophylaxe eine noch viel bedeutendere Rolle spielen.

Auch wenn weniger Fleisch in Deutschland gegessen wird, so wird es weiterhin Schlachthöfe geben. Die Transportkontrollen werden zunehmen, vermutlich auch durch den Druck der Tierschutzvereine. Ich hoffe, dass wir dabei wieder auf mehr Regionalität setzen. Die Obergrenzen für die Transportwege könnte die neue Regierung progressiv angehen, eventuell wäre eine bundeslandspezifische Schlachtregelung möglich. Es werden nur gesunde und gut entwickelte Tiere auf dem Schlachthof angenommen. Damit verbleibt heute immer wieder die Frage, „Was passiert mit den anderen Tieren?“. Gibt es einen Grund für eine Euthanasie von zurückgebliebenen Tieren, denen es sonst gut geht, für die es aber keine Nutzung als Schlachttier gibt? Wie rechtfertigen wir die Euthanasie eines Mastschweines mit der Verdachtsdiagnose Oberschenkelfraktur, bei dem eine Therapie medizinisch möglich wäre und wirtschaftliche Gründe keinen Euthanasiegrund darstellen dürfen?

Der Druck auf die landwirtschaftlichen Betriebe wird immer größer. Belastend empfinden die Landwirte den Personalmangel, den schlechte „Ruf“ der Landwirtschaft (Haltungsform und Tierumgang), die niedrigen Preise für Erzeugnisse (Milch, Fleisch) bei deutlich steigenden Produktionskosten (Gehälter, Futter, Strom) und eine zunehmend gesetzliche Behinderung (Baugenehmigungen, Bimsch, Umweltauflagen, Dünge VO und Stickstoffbilanzen, TAMG u.a.). Entscheidend über das Fortbestehen der heimischen Landwirtschaft wird die Frage sein, ob der Verbraucher für deutsche Produkte deutlich mehr bezahlt, als für importierte Ware.

Auch wenn es zukünftig vermutlich weniger große Betriebe geben wird, so nimmt mit den kleineren Betriebsneugründungen, die meist als Nebenerwerb laufen, die Tierartenvielfalt zu (Neuweltkameliden, Schafe). Ein großer landwirtschaftlicher Einschnitt wären Tierzahlobergrenzen pro Betrieb (evtl. nach Fläche beschränkt, besonders in den neuen Bundesländern).  In jedem Fall werden ökologisch geführte Betriebe vermehrt zu unseren Kunden gehören.

In unserer täglichen Arbeit wird die Zeit am Schreibtisch zunehmen. Bescheinigungen (Transport, Schlachtung) und Stellungnahmen (Tierschutz u.a.) werden zunehmen. Als nächstes kommt das neue TAMG. Die Bindung an Zulassungen im Beipackzettel fordert uns, die grundsätzlich neue Umwidmungskaskade und nicht zuletzt die sich in den kommenden Jahren auf alle Tierarten ausweitende zentrale Verbrauchsmengenerfassung der Antibiotika. Ich glaube, dass die Apothekenkontrollen deutlich strenger und gesetzeskonformer werden, insb. zum Einsatz von Antibiotika. Wir merken jetzt schon, wie sehr sich Medikamentenalternativen anbieten (NSAID, Enzyme, Immunmodulatoren). Selbst die stark umstrittene Homöopathie hat erfolgreich Einzug in die Nutztiermedizin gehalten, auch wenn der erfolgreiche Einsatz zumeist nicht nachweisbar bleibt.

Ich merke, dass die Nutztierpraxis wieder individueller wird. Das selektive Trockenstellen, die evidenzbasierte Mastitis Therapie, der abschätzbare Therapieerfolg oder die Überlegungen zur Transportwürdigkeit zur Schlachtung bringen uns direkt ins Gespräch mit den Landwirten. Das ist eine Chance. Ich bin mir nicht sicher, wo die Digitalisierung ihre Grenzen haben wird. Können alle Betriebe die neue Technik finanzieren und bedienen? Haben wir die geschulten Mitarbeiter dafür? Wir sind heute schon kaum in der Lage, die Datenmengen, die uns in der Milchproduktion generiert werden, regelmäßig zu bewerten. Wir werden trotzdem lernen, uns auf wenige wesentliche Kennzahlen zu konzentrieren, die leicht generierbar, leicht interpretierbar und verständlich sein müssen.

Persönlich beschäftigen mich die Haltungsbedingungen beim Rind und Schwein. Wir müssen selbstkritisch zur Kenntnis nehmen, dass ca. 25-30% der Milchkühe lahm sind und dass über 80% aller Milchkühe Zellzahlen jenseits des physiologischen Bereiches aufweisen (subklinische Mastitis). Ich merke, dass uns Milchkühe Fehler in der Fütterung oder Haltung nur schwer verzeihen. Gerade die hohen Milchleistungen sind mit betriebseigenen Futtermitteln im Klimawandel ohne Düngung auf minderen Böden nicht mehr erfütterbar. Dazu die immer größer werdenden Kühe und hohen Ansprüche an die Haltung in der Transitphase stellen uns Praktiker vor große Herausforderungen. Wenn es uns gelingt, den Weideauslauf für Rinder umzusetzen, so ist oftmals die Kontinuität der Grundfuttervorlage  und die Pflege der Austriebswege mit den Umweltauflagen schwierig. Wir werden erkennen, dass man auch in alten Ställen tiergerecht halten kann, wenn man bereit ist, die Tierdichten deutlich zu reduzieren.

Beim Schwein wissen wir längst, dass wir mit den Mindeststandards nach der Schweinehalterhygieneverordnung, selbst unter „Tierwohl“, den Grundbedürfnissen der Schweine nicht gerecht werden können. Ein „wühlbedürftiger Allesfresser“, den wir auf Spalten mit je 1m² und als Veganer ernähren, kann nicht tiergerecht gehalten werden. Ich wünsche mir von der neuen Regierung langfristig verbindliche Standards für die Tierhaltung. Auch wenn die Einschnitte tief und schwer sind, dann kann sich die Tierhaltung danach richten. Gleichzeitig brauchen wir für die Haltung der Tiere in Deutschland unter den hohen Standards eine faire Bezahlung des Produktes.

Eins steht fest: Die Nutztierpraxis verändert sich gerade. Ich glaube, dass wir daraus große Chancen für die Entwicklung unserer Praxen erwachsen lassen können. In unserer Praxis merke ich bereits, dass wir Leistungs- und Beratungsdienste besser abrechnen lassen können und wir uns vom Medikamentenumsatz unabhängiger gemacht haben.