Eine Praxisübernahme kann für Tierärzt:innen eine erfolgversprechende Alternative zur Neugründung oder einer Anstellung sein.
Die Möglichkeit für eine beruflich erfüllende und zugleich auch monetär auskömmliche Ausübung des tierärztlichen Berufes durch die Übernahme einer bestehenden Praxis ist gegenüber einer Anstellung oder einer Neuniederlassung in den Hintergrund gerückt.
Eine Auswahl der bei Gesprächen und Befragungen mit Praktizierenden meist genannten Argumente gegen eine Praxisübernahme:
- Die vorwiegend im Bereich der Kleintier- bzw. Pferdemedizin agierenden Investorennetzwerke sind ggf. im Wettbewerb um eine Klinik oder Praxis bereit und in der Lage, deutlich höhere Summe zu bieten als ein oder mehrere Einzelpersonen ohne Investorenhintergrund. Da kann ein Praxisgründer nicht mithalten.
- Diese Summen weichen sehr erheblich von den aufgrund der bisher üblichen Regeln für die Bewertung einer tierärztlichen Klinik oder Praxis ab. Und der Trend ist ungebrochen, denn die größten Netzwerke wie Tierarzt Plus Partner, AniCura, IVC Evidensia oder Altano (Pferdebereich), sowie diverse kleinere Netzwerke vergrössern weiterhin ihr Portfolio.
Zudem erhoffen sich leitende Tierärztinnen und Tierärzte im Verbund eines tierärztlichen Netzwerkes die realistische Chance, sich vielen ungeliebten Aufgaben, die naturgemäß zur kaufmännischen und organisatorischen Führung einer Praxis gehören, nicht selbst oder zumindest in einem geringeren Maße widmen zu müssen.
- Da man, anders als zu früheren Zeiten, nicht sicher von einem späteren Verkauf einer jetzt kreditfinanzierten Praxis ausgehen kann, ist der Kauf eines ideellen (Kundenstamm) und eines materiellen (Equipment, Apotheke etc.) Praxiswertes nicht interessant. Statt eine Praxis zu kaufen, wird lieber in die Neugründung investiert und von der «Eroberung» eines Markanteils als bessere Alternative ausgegangen, wenn man sich für eine Selbständigkeit entscheidet.
- Die oft einer Selbständigkeit in einer privaten Ein- oder Mehrpersonenpraxis zugrunde liegenden bisherigen Lebensentwürfe haben über viele Jahre statistisch häufiger als in allen anderen akademischen Heilberufen zu den höchsten Raten bei Ehescheidungen, Suiziden, schwerem Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie psychischen Erkrankungen geführt.
- Es ist sehr anspruchsvoll, einer eingeführten Praxis, die über viele Jahre ihre fachliche und persönliche Prägung durch die Praxisgründer:innen erfahren hat, den eigenen Stempel zu verleihen. Dies ist bei einem gewachsenen Kundenstamm umso schwerer, wenn das Dienstleistungsportfolio bzw. eine fachliche Spezialisierung, die Preise und auch die Persönlichkeit sich logischerweise von den Attributen des bisherigen Inhabers oder der bisherigen Inhaberin unterscheiden.
Diese Aussagen haben sämtlich alle eine lediglich relative Gültigkeit oder sind statistisch unterlegte Tatsachen.
Wichtig für alle, die über eine Praxisübernahme nachdenken: Kein Argument hat eine absolute Gültigkeit, die eine grundsätzliche oder klischeehafte Ablehnung (z.B. sowieso nicht) einer Praxisübernahme rechtfertigen würde.
Im Gegenteil.
- Nicht alle Einzel- und Gemeinschaftspraxen (ca. 10.000-10.200 Praxen) sind für tierärztliche Netzwerke interessant. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass eine Übernahme dieser Praxen betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll ist oder dort nicht von einem motivierten Praxisteam anspruchsvolle tiermedizinische Dienstleistungen zum Wohle der Tiere erbracht werden.
Eine Preisfindung richtet sich hierbei nicht nach Höchstpreisphantasien, sondern spiegelt die Interessen beider Vertragsparteien wider. «Ein guter Vertrag tut beiden Seiten gleich weh» ist eine immer noch gültige Weisheit.
- Eine bereits bestehende Kundenbasis kann den Start in eine Selbständigkeit erheblich erleichtern, aber nicht garantieren. Personenindividuelle und nachvollziehbare fachliche Skills spielen eine grössere Rolle für den Praxiserfolg als der Preis für die tierärztliche Dienstleistung.
Vor der Kaufentscheidung sollte in der Praxis so lange mitgearbeitet werden, dass eine valide Beantwortung der Frage möglich ist, ob das Team, das Dienstleistungsportfolio und die Kundschaft zur eigenen Vorstellung passen würden.
- Eine etablierte Infrastruktur einer bestehenden Praxis verfügt bereits über Räumlichkeiten, Praxisequipment und -einrichtung. Der Praxisstandort ist bei Kunden bekannt und es stehen bestenfalls ausreichende Parkmöglichkeiten zur Verfügung.
Das kann ggf. erhebliche Kosten und Zeit einsparen, bedingt aber eine genaue Prüfung, in welchem Ausmass das Anlagevermögen der Praxis funktional und funktionell die künftigen Pläne umzusetzen ermöglichen. Aus der Apotheke und dem Verbrauchsgüterlager die nicht abgelaufenen, korrekt gelagerten Produkte zu übernehmen, ist kein Problem und kann helfen, Kosten einzusparen.
Die fachliche Reputation und der Bekanntheitsgrad der etablierten Praxis sorgt für einen Vertrauensvorschuss der Kundschaft, was bei ab dem ersten Tag eine besser planbare Deckung fester und variabler Kosten durch kontinuierliche Einnahmen ermöglichen kann.
Beim Für oder Wider einer Praxisübernahme kann man den Vergleich mit dem Finden einer Lebenspartnerschaft heranziehen: Man muss eben den oder die Richtige finden.
Eine eigene Praxis – selbst gegründet oder übernommen – muss immer
- zum eigenen Lebensentwurf
- zum persönlichen Mindset zur Tiermedizin, den eigenen fachlichen Ansprüchen und Plänen zur Fort- und Weiterbildung – auch in Bezug auf das Thema Versorgungssituation der Tiere oder der präferierten Tierart in der betreffenden Region etc.
- zur Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben
passen. Und das entweder für eine lange Zeit oder mithilfe der Möglichkeit, Dinge oder Strukturen nötigenfalls situativ zu verändern.
Sind diese Parameter abgehakt, muss eine valide Umsatz- und Gewinnplanung sowie ein Businessplan erstellt werden. Dazu gehört auch, die angepeilte Region anzuschauen, um die gegenwärtige Mitbewerber- und Versorgungssituation in dem eigenen Fachgebiet zu bewerten.